Die Bedeutung des Jahres 1803

Nun ist es aber so, und das ist den Leuten heute nicht mehr so gegenwärtig, daß der Thurgau in jenem Jahr, da «Freiheit und Gleichheit» durch das Land schallten, noch nicht ein selbständiger Kanton wurde, sondern daß man die alte Landvogtei zu einem Verwaltungsbezirk der einen und unteilbaren helvetischen Republik nach dem Zuschnitt der politischen Pariser Grande couture verwandelte. Man wollte damals Schluß machen mit der Selbstherrlichkeit der eidgenössischen Orte und den lockern Staatenbund zu einem zentralistiseh dirigierten Einheitsstaat umkneten. Der Teig ging aber trotz der frischen revolutionären Hefe nicht auf. Die Umwandlung war zu radikal, zu rücksichtslos vor sich gegangen, und die Kräfte der eidgenössischen Traditionen waren trotz den verkalkten äußeren Formen noch so stark, daß der Einheitsstaat sich in Tat und Wahrheit als ein schwankendes Gebilde präsentierte, dem es in allen Fugen krachte. Die helvetische Zentralregierung, das Direktorium, vermochte sich nicht durchzusetzen, und zwischen den Freunden des Einheitsstaates, den Unitariern, und den Verteidigern der selbständigen Kantone, den Föderalisten, erhob sich kriegerischer Zwist. Im Thurgau war man vorwiegend dem neuen Einheitsstaat zugetan, der zwar nicht die kantonale Selbständigkeit, wohl aber den Thurgauern Gleichheit mit den übrigen Eidgenossen gebracht hatte; von dem Föderalismus befürchtete man aber, daß er darauf ausgehen möchte, wieder zweierlei Schweizer zu schaffen, Herren und Untertanen; trauerten doch offensichtlich viele Bürger der alten Orte der früheren Zeit nach. Die helvetische Republik, von Frankreich geschaffen, war auch ein Vasall dieses Landes, das im Begriffe stand, die Revolution zu liquidieren und zu einem imperialistischen Machtstaat zu werden. Daher schaute man in Paris den Wirren in der Schweiz mit Mißvergnügen zu. Ende 1802 entschloß sich General Bonaparte, der Erste Consul, der die Zügel Frankreichs in die Finger genommen hatte, in Helvetien Ordnung zu schaffen. Er berief Abgeordnete, die sogenannte Consulta, nach Paris, damit er sich mit ihnen über eine neue Verfassung berate. Im Thurgau verzichtete man darauf, einen eigenen Vertreter nach Paris reisen zu lassen, da man die Auslagen scheute und sich wohl nicht sehr viel von der Mission versprach; man übergab die Wahrung der Interessen einem Aargauer, dem angesehenen Philipp Anton Stapfer. So stand denn die Sparsamkeit schon an der Wiege unserer Souveränität zu Gevatter; kein Wunder, daß sie eine der klassischen Eigenschaften unseres Staatswesens wurde. Das Gespräch der helvetischen Deputierten mit dem Ersten Consul verlief etwas einseitig. Sie durften wohl eine Zeit lang beraten, um recht offenbar werden zu lassen, daß sie sich auf keine Verfassung einigen konnten. Dann trat eines Tages General Bonaparte unter sie und legte ihnen eine fertige Verfassung, die Mediationsakte, vor, die sie mit tiefen Bücklingen entgegennehmen durften. Das Land der Helvetier sei nicht für einen Einheitsstaat geschaffen, betonte Bonaparte treffend; es sei von Natur aus zu sehr verschieden gestaltet in seinen Teilen. Diesem Wesen könne nur eine föderalistische Verfassung gerecht werden. Und so ließ der Herrscher Frankreichs die Kantone wieder als souveräne Staaten auferstehen, die zu einem Bund mit bescheidener Zentralgewalt vereinigt waren.

1. Siegel des Kt. Thurgau

Für jeden dieser Kantone ließ er eine eigene Verfassung ausarbeiten. So kam auch der Thurgau zu einer Verfassung, die ihn zu einem souveränen Staat erhob. Danach durfte das Volk seine Abgeordneten für den Großen Rat wählen, und aus diesem wurde als Regierung der Kleine Rat ernannt. Das Parlament ging eilends daran, die nötigen Gesetze für die Ordnung des Staatslebens zu schaffen, und die Regierung wählte Wappen und Siegel, wobei sie in der Eile vergaß, Heraldiker zu konsultieren. So weiden unsere Wappenlöwen den Zwingern der Kyburger, unserer voreidgenössischen Landesherren entnommen - auf Feldern, deren Farbe nicht zu ihrem Fell paßt, und sie lassen sich von keinem Heraldiker mehr daraus vertreiben, was dem Ansehen unseres Staates freilich wenig geschadet zu haben scheint. Mit dem Frühjahr 1803 wurde der Thurgau also als mündig erklärt, womit ihm die nicht geringe Aufgabe erwuchs, selbst dafür zu sorgen, daß er sich als Staat durchsetzte und seinen Bewohnern ein geordnetes Leben ermöglichte. Die Bürde, die den verantwortlichen politischen Organen damit aufgeladen wurde, war sehr groß, mußte doch die ganze Staatseinrichtung frisch entworfen und geschaffen werden. Der Staat hatte auch kein Geld; er mußte erst nach Finanzquellen suchen, was nicht leicht war, nachdem man das alte System der Abgaben unter den Freiheitsbäumen jubelnd verabschiedet hatte. Mit der Mündigkeit des Kantons war freilich noch nicht die Mündigkeit der einzelnen Bürger im heutigen Sinn der demokratischen Rechte erreicht. Es brauchte nicht weniger als zwei Generationen, bis der Umfang der bürgerlichen Rechte ungefähr den heutigen Stand erreicht hatte. Der Übergang von der Untertänigkeit der alten Landvogtszeit zur unmittelbaren Demokratie vollzog sich nicht in einem Kopfsprung, sondern in langsamer Entwicklung. Auf den Landvogt folgten die Landesväter der Mediationszeit und der Restaurationsverfassung von 1815, das heißt die Regierungen, die wohl indirekt über den Großen Rat durch das Volk bestellt waren, die aber noch reichlich patriarchalisch über dem Volke standen und diesem gutväterlich im autoritären alten Sinn den staatlichen Haushalt führten. Das Volk durfte zwar mit gewissen Einschränkungen seine Vertreter, den Großen Rat, wählen, aber damit hatte es sein Bewenden. Selbst ein Thomas Bornhauser, der als der Vorkämpfer für die Volksrechte gilt, dachte noch nicht daran, das Volk in Sachfragen entscheiden zu lassen. Die Regenerationsverfassung der dreißiger Jahre, die aus seiner Bewegung entstand, verschob nur das Gewicht vom Kleinen Rat, der Regierung, mehr auf den Großen Rat, die Volksvertretung. Erst die Verfassung von 1849 wagte, dem Bürger das Recht des Vetos anzuvertrauen, eine Art fakultatives Referendum gegen Großratsbeschlüsse. Die direkte Demokratie mit der Volkswahl des Regierungsrates und der Ständeräte und mit dem obligatorischen Gesetzesreferendum wurde 1869 eingeführt, im gleichen Jahr, als in Frauenfeld das neue Regierungsgebäude bezogen wurde. Das Volk konnte sich also langsam an seine wachsenden Freiheiten und Rechte gewöhnen; so hat es denn immer vernünftigen Gebrauch davon gemacht. Wenn man dann und wann einen seiner Entscheide in Wahlen und Abstimmungen im Augenblick als unglücklich anzusehen geneigt war, so zeigte sich auf lange Sicht oft, daß ein vermeintliches Unglück keines gewesen war. Was die Souveränität des Staates selbst betrifft, so ist zu sagen, daß sie den umgekehrten Weg der Bürgerrechte nahm. Der Kanton genoß in der Mediationszeit - von der französischen Oberhoheit abgesehen - am meisten Verfügungsfreiheit. Später trat er immer mehr davon an den Bund ab, namentlich nach 1848, und heute sind wir an einem Punkte angelangt, wo es gilt, Halt zu machen, wenn die kantonale Souveränität nicht ein leeres Wort werden soll. Wir bejahen sicher ausnahmslos den Bundesstaat, dem wir wesentliche kantonale Rechte geopfert haben, anderseits möchten wir aber nicht dem Bunde alles zu verwalten abgeben; denn im kleineren Raum können wir eher im vollen Sinne demokratische Bürger sein. Wir halten darauf, die thurgauische Kammer im eidgenössischen Hause selbst verwalten und einrichten zu dürfen, wenn wir auch wissen, daß diese Kammer nur in einem wohlunterhaltenen Hause Bestand haben kann.