Tavernenrecht Glarisegg

"Wo der schmale, liebliche Untersee eine seiner schönsten Buchten umspielt, steht ein uraltes Haus. Einmal, so berichten die gesiegelten Briefe, besaß es Heinrich Hanhart, ein aus dem badischen Bollingen eingewanderter Ziegler. Der junge Badenser hatte die alte Ziegelhütte vom Steckborner Hänßly käuflich erworben. Das war Anno Domini 1510. Man vermeint, schon in damaliger Zeit habe die Lehmgrube, das Rebland und die Aecker den Namen Laingrieß gehabt, der von Lehm und feinem Kies abgeleitet wird. Später verwandelte sich die Bezeichnung. Nacheinander ist von Larusegg und Glarisegg die Rede. Die Ziegelhütte Laingrieß muß unter dem neuen Besitzer floriert haben. Er baute das Haus Hänßlys auf dem schönen Gelände am See höher auf und faßte das Quellwasser in einen Brunnen. Die Gemeinde Steckborn gab ihm schon bald das Bürgerrecht. Eine Abschrift des gesiegelten Briefes besagt, daß es war «uff Donnerstag nächst von unserer Frouvenstag zu Liechtmäs, Purificationis genannt in dem Jahr von unseres Herrn Christi geburt gezelt fünfzehn hundert und zehn Jahr». Noch tragen die gleichen Balken das altehrwürdige Haus zu Glarisegg. Es ist in seinem Ursprung erhalten geblieben, wenn auch sein Gewand gewechselt wurde. Von hohen Bäumen beschattet und umblüht mit des Frühlings duftender Pracht, ist es vor einigen Jahren liebevoll restauriert worden. Riegelwerk flicht ein einfaches, gediegenes Muster in die rohe Mauer. Innen empfängt den Gast die uralte Zeit mit Balkendecke und kupfernem Hausgerät, mit Schiefertisch und Stabellen. Eine wechselvolle, zum Teil unergründliche Geschichte ist mit dem Hause Heinrich Hanharts, des Zieglers, verwoben. Manches darin ist in alten «Birgamenten» niedergelegt. Diese Handschriften berichten von Händeln und Intrigen, von Rechten und Bußen, Kauf und Lauf aus einer Zeit, die uns sehr ferne scheint. Aber wenn man sich einmal in die schnörkelreiche, gewundene Sprache des 16. Jahrhunderts eingelesen hat, zaubern einem die vergilbten Briefe, die birgamentenen, eine kleine, verträumte "Welt vor Augen, in der die Ziegelhütte «Laingrieß» und das heutige Hotel Glarisegg ineinander übergehen. Es ist nämlich so, daß Glarisegg am Untersee ein bemerkenswertes Jubiläum begeht. Es sind vierhundert Jahre her, daß besagter Heinrich Hanhart, gebürtig aus Bollingen, aufgenommen ins Bürgerrecht von Steckborn, in seinem Hause eine Wirtschaft eröffnete. Er tat dies zwar unerlaubterweise, aber doch mit Erfolg. Zu jener Zeit war es nämlich auch nicht leicht, das Tavernenrecht zu bekommen. Die hohe Obrigkeit — das waren meist die Gerichtsherren — vergab dieses Recht sehr willkürlich und nur auf genau bestimmte Zeiten des Jahres. So konnte ein Seßhafter, der eigenen "Wein pflanzte, nur mit Bewilligung der Herrschaft diesen Wein an Durchreisende ausschenken, nichts Warmes verabfolgen und keinen Gast länger als eine Nacht beherbergen. Zum Zeichen, daß die Bewilligung erteilt war, mußte der Bauer einen Reif an seinem Hause aufhängen. Die Preise für den Wein waren vorgeschrieben. Heinrich Hanhart, der Ziegler, hat keinen Reif angesteckt, als er im Jahre 1556 damit begann, «Wanderer zu beherbergen», wie es im Urteil heißt, das eine Buße über ihn aussprach. Ohne Erlaubnis und wie es ihm gefiel, schenkte er den auf seinem Gute Laingrieß gereiften und im Keller gepreßten Wein aus, wohl überdenkend, wie günstig sein Haus am Wege zwischen Mammern und Steckborn lag. Vielleicht — wer weiß? Ermunterte ihn dazu auch sein gutes Herz, das sich der Wanderer und Reisenden erbarmte, wenn sie hungrig und durstig an seiner Ziegelhütte vorüberzogen. Aber die Tavernenwirte zu Steckborn stach der Konkurrenzneid. Sollten sie zusehen, wie ihnen der Ziegler die Kundschaft wegschnappte, bevor diese durch's Obertor in ihre Mauern einzog? Klage und Buße trafen den Unbotmäßigen in Laingrieß. Er aber kümmerte sich nicht stark darum. Und schon im Jahre 1557 prangte an seinem hohen Steinhause der grüne Reif, mit dem er männiglich verkündete, daß er das Tavernenrecht für sich und seine Nachkommen erworben habe. Abseits der Dörfer, am Rande der lieblichen Bucht gelegen, mit dem Blick auf die deutsche Höri und das Städtchen Steckborn, von See und Wald umgeben, ward das Wirtshaus ein vielbesuchtes Absteigequartier. Man kann sich gut vorstellen, wie abends die Wagen reisender Herrschaften in den Hof einbogen, der Kutscher die Pferde ausspannte und versorgte, während die müden Gäste in niederen Kammern noch ein wenig aus dem Fenster schauten und den Einfall Hanharts priesen, an solch wunderschönem Flecken Erde eine Taverne aufzumachen. Die Hanhartin bewirtete sie nachher mit Speck aus dem Kamin, mit Trischen zur Fastenzeit und erzählte den Fremden vom eigenwilligen Menschenschlag an diesem Ufer und wie es schwer sei, als Zugewanderter die Rechte zu bekommen, die die Amtsmänner von Steckborn eifersüchtig hüteten. Dann wird der Nachtwind in den Pappelbäumen am Ufer den müden Gästen das Schlaflied gesungen haben. Vielleicht hörten sie es nicht, dieweil die Schlafmützen ihre Ohren deckten und die Butzenfenster fest verschlossen waren. Einmal, Anno 1572, ließ der Tavernenwirt eine Glocke gießen. Er dachte wohl, das einsam gelegene Haus brauchte einen Rufer. Am First des Hauses hängte er sie auf, und wenn die Zieglergesellen zur Arbeit und zum Essen antreten mußten, zog die Magd am Strange, daß der Glocke heller Ton in alle Weite drang. Er rief aber nicht nur das Gesinde, sondern auch die Wandersleute, die fahrenden Sänger und die Kutscher auf ihren Hochsitzen über Droschken und Reisewagen. So verkaufte der Wirt seinen Wein, die Wirtin das Essen, und die Kammern waren immer wieder belegt. Die kleine Glocke tat ihren Dienst getreulich, und als man sie im vorigen Jahre herunterholte, war sie wohl alt geworden und am Rande ein wenig beschädigt. Aber noch ist darauf zu lesen: «Der Gießer Petrus Fuslinus, weit herum bekannt durch seine Kunstfertigkeit, hat mich gegossen. Im Jahre 1572.» Durch vierhundert Jahre hat sich aus dem bescheidenen Anfang der Taverne «Laingrieß» das heutige Hotel Glarisegg entwickelt. Noch haftet ihm als schönstes Erbe die Tradition an, die in den Quadern der Mauern und im schwarzen Gebälk daheim ist. Das Wissen um so frühen Anfang hat immer wieder jemanden verpflichtet, in die Reihe derer zu treten, die dieses Haus von Hand zu Hand weitergaben. Es ist nicht ein Name, der in ihm weiterlebt — und wirkt —, vielmehr spürt man um die Athmosphäre und den Hauch der Geschichte, die dieses Haus bis unter den Giebel erfüllen. Sorgende, behutsame Hände haben Neues geschaffen auf altem Fundament, ohne die Spuren der vierhundert vergangenen Jahre zu verwischen. Die Schicksale, die das Haus und seine Bewohner erlebten, sind eingekerbt im lebendigen Holz des Gebälks, und das Lied der Vergangenheit hat in Sommernächten noch dieselbe Melodie wie damals. Es ist der Willkommgruß für die Menschen, die auch wieder müde sind und abseits der Straße Herberge suchen. Der Glocke des kunstfertigen Petrus Fuslinus ist eine schöne Aufgabe geworden: Kommt eine Hochzeit vor das uralte Gasthaus gefahren, so beginnt das Glockenlied zu singen, froh und heiter, als sängen im grünen Laubwerk an der Mauer die Vögel mit und nebenan die Wellen und im Wiesenteppich tausend summende Immen.

Glarisegg, im Sommer 1957 Maria Dutli-Rutishauser